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Wir Ueberauer - Ein Dorf wird porträtiert

Es muss irgendwann in den Neunziger Jahren gewesen sein. Ich war Geschäftsführer meiner eigenen Werbeagentur und sah Ueberau eigentlich nur in den späten Abendstunden und früh am Morgen. Wenn ich losfuhr, winkte mir unser Nachbar Karl Petri von seinem Küchenfenster aus zu, manchmal hielt ich kurz an, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Etwa zur gleichen Zeit sprach ich eines Abends mit meiner Frau über unsere Nachbarn und die Idee entstand, die Ueberauer zu porträtieren. Wie es manchmal mit einer guten Idee ist, brauchte es eine Weile, bis sie reif wurde.

Jahre später fragte mich Christine Petri, ob ich die Hochzeit ihrer Tochter Annette mit Schwiegersohn Jens aufnehmen würde. Ich sagte sofort zu und fotografierte über mehrere Tage die Feierlichkeiten im Hof, in und vor der Kirche, auf der Straße und beim Hochzeitsessen im Odenwald. Es entstanden einige sehr gute Bilder, die mich wieder an die Idee aus den Neunzigern erinnerten.

Ich fragte meinen Nachbarn Karl, ob er sich von mir für eine Ueberauer Porträtserie fotografieren lassen würde. Leider schlug er mir den Wunsch aus, ich war etwas frustriert und ließ von meiner Idee wieder ab. Dann starb Karl Petri plötzlich und ich war traurig und fassungslos. Ich hätte nicht locker lassen sollen!

Eines Morgens im November 2010 traf ich Uli Frey mit seiner Fotoausrüstung mitten im Feld. Ich kann nicht sagen warum ich ausgerechnet in diesem Moment auf ihn zuging und fragte, ob er Lust hätte, ein verrücktes Projekt mit mir zu machen. Uli hörte sich die Idee kurz an und sagte sofort zu.

Wir brauchten nicht lange, um uns über die Konzeption einig zu werden, dass wir die Ueberauer auf einem grauen Tuch fotografieren, dass die Bilder schwarzweiß sein würden und wir in einem Jahr eine große Ausstellung und ein Buch machen sollten. Klar war auch, dass wir das Projekt aus eigener Tasche finanzieren.

Alles entwickelte sich ganz organisch fast von selbst. Wir luden zum ersten Shooting im Februar 2011. Die Fotos gefielen auf Anhieb, wir hatten es geschafft, die Originalität der Menschen einzufangen, indem wir sie genau so ablichteten, wie sie sich im Alltag durch Ueberau bewegen. Keine Schminke, nichts Künstliches. Einfach „Ueberauer pur“.

Fast alle der Angesprochenen waren bereit, sich porträtieren zu lassen. Die Serie wuchs. Die Aufnahmetermine im Hof Roth bekamen Volksfest-Charakter, es war ein Kommen und Gehen im Viertelstundentakt, man begrüßte sich freundschaftlich, tauschte Neuigkeiten aus, blätterte unsere Ordner mit den bereits Fotografierten durch, staunte, wer alles schon auf dem Tuch gestanden hatte. Es sprach sich im Ort herum und man sprach uns an – ob man auch kommen dürfte und ob der und der nicht auch mit aufgenommen werden sollte.

Noch nie zuvor in meinen über 3 Jahrzehnten in Ueberau wurde ich auf der Straße von so vielen Menschen gegrüßt wie seit dem Beginn unseres Projektes! Eine erste Präsentation unserer Bilder in der Öffentlichkeit fand 2011 im Rahmen des Wettbewerbs „Unser Dorf hat Zukunft“ statt, bei dem wir an markanten Stationen des Rundganges der Bewertungskommission großformatige Abzüge zeigten. Es war ja klar, dass Ueberau gewinnen würde...

Radio Darmstadt lud uns zu einem Live-Interview im September 2011 ein. Ende November 2011, nach 25 Aufnahmeterminen mit vielen tausend Bildern, stürzten wir uns dann in die Produktion eines ersten Buches und einer Ausstellung, die uns im Frühjahr 2012 die Aufmerksamkeit des Hessischen Fernsehens und fast 1000 Besucher bescherte.

In der Zwischenzeit haben wir ein 2. Jahr fleißig weiter fotografiert, mehrere Ausstellungen durchgeführt und einen weiteren Band mit neuen Bildern zusammengestellt.

Wir werden unser Projekt noch viele Jahre weiter betreiben, denn unser Dorf bietet so viele talentierte Modelle, dass wir einfach nicht aufhören können. Wir stellen unsere Professionalität und unseren Enthusiasmus zur Verfügung, um in noch nie dagewesener Art ein ganzes Dorf zu porträtieren.

Sehr betroffen und traurig macht hat uns die Tatsache, dass in der Zwischenzeit bereits sechs unserer Modelle verstorben sind, in einem Fall sogar nur wenige Stunden nach dem Shooting. Gleichzeitig gibt auch dies uns Kraft, das Projekt weiterzuführen und dadurch ein immer vollständiger werdendes visuelles Gedächtnis zu schaffen, das zukünftige Generationen an die starken Charaktere erinnern wird, die unser Dorf mit geprägt haben. In unseren Ausstellungen und Büchern bleiben sie lebendig.

Unsere Vision ist es, dem Projekt und den Bildern in der Zukunft einen festen Ort in unserer Gemeinde zu geben - eine Art "Fotomuseum Ueberau". Dort hätten dann auch historische Bilder aus längst vergangenen Zeiten Ueberaus einen Platz ... In Iwwero wäre so etwas vielleicht möglich. Wir lassen uns überraschen! 

Wir freuen uns darüber, dass unsere Arbeitsweise in der Zwischenzeit von Kollegen in anderen Gemeinden aufgegriffen und dort in ähnlicher Weise geplant wird. 

Unser großer Dank gilt den Iwweroern, die auf so erstaunlich lockere Art unser graues Tuch betreten, in einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie noch nie etwas anderes getan.

Wie sagte eines unserer Modelle kürzlich: Iwweroer – das beste was ein Hesse werden kann!                   

 

Tim Besserer

 

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